Warum Deutsch mein Lieblingsfach war

Weil da jeder Autor so unendlich viel in seinen Gedichten und anderen Werken aussagen wollte. Beispiel: Das Gedicht ‘Motivation’:

Motivation
aus Protest

Dieses Gedicht kam nicht so, aber so ähnlich in einigen unerschöpflichen Deutschstunden bei D. F. vor, und ich hätte es am liebsten auf die folgende Weise interpretiert: [Gesamtumfang: 153 Seiten DIN A4, für die Abi-Zeitung gekürzt.]


Das Gedicht ist gegliedert in zwei Zeilen, wobei die jeweilige Anzahl der Wörter mit der Zeilennummer übereinstimmt. Es werden keine vollständigen Sätze gebildet, da auf Verben verzichtet wird. [...]

Aus dem Faktum, daß keine Verben in diesem Gedicht auftauchen, muß man erkennen, daß der Autor das aktive Element des Verbs ablehnt und dadurch ad absurdum führt. Den aktiven Geist, welcher in der heutigen, extrem antagonistischen und geradezu – wie bereits Dürrenmatt erkannte – grotesken Welt und ihrer Gesellschaft gefordert wird, stellt der Dichter in einer generell obszönen Art und Weise dar. Eben dieser ist es, der in der deutschen Realität (sic!) der Bourgeoisie, welche – aus dem Gedicht klar erkennbar – im transzendenten Geist des Dichters existiert, nicht vorhanden ist. Dieser Querverweis zu Karl Marxens ‘Das Kapital’ sowie die bedeutungsschwangere zweite Zeile ‘aus Protest’ offenbaren dem Leser ein großes Stück europäischer Geschichte: Das Schwinden des aktiven Elementes, welches, ohne die Beziehung zur Freiheit hier näher zu erörtern, sich selbst der unendliche Stoff, die unendliche Form und selbstverständlicherweise die unendliche Interaktion ist, hat sich nicht nur im kontradiktionären Barock, im Jung-Hegelianismus, sondern um so mehr im Heute – vom Dichter als ‘post-protestantische Epoche’ bezeichnet – zu einer sämtliche Bevölkerungsschichten erfassenden Diskussion hervorgetan, wie es Hegel nur für die Vernunft selbst für äquivalent hielt. [...]

Der Dichter begibt sich auf einen schmalen Grat der Poesie, indem er das aktive Element – welches er als die Bedingung für Protest und Motivation jedes souveränen Individuums ansieht – mit der Vernunft, wie sie Hegel vergeblich versuchte herzuleiten, gleichsetzt. Er begeht somit einen Fauxpas gegen die etablierte Kritikeretage. Diesen begeht er aber keineswegs um des Zufalls willen, sondern versucht auf eben diese Weise, beim Bildungsbürgertum zum Stein des Anstoßes zu werden und erlegt jenem die Pflicht auf, das Gleichsetzen der Vernunft mit dem aktiven Element zu überdenken. [...]

Doch eben dieser Stein des Anstoßes ist es, welcher zum hoffnungsfüllenden und trotzdem schwermütigen Eckstein einer proprietaristischen und daher utilitaristischen Gesellschaft der kommenden Generation werden könnte. [...]

Denn das Gleichsetzen des Aktiven mit der Ratio ähnelt der kumulativen Effektaddition, welche die moralische Anstalt in Schillers Rede nur noch bewußt ignorieren muß, da man – wie der Autor es klar erkennbar tut – sich auf Büchner beziehend den Antihelden propagiert und daher preziöse Hypotaxen Schillers kapriziös integriert. [...]

Dabei wurde noch nicht auf die unendliche Bedeutung des Protestes eingegangen: Der Protest, welcher das aktive Element der agonistischen (sic!) Selbstdarstellung zur Zeit Platons war, projiziert sehr gut die damaligen sozialen, politischen und ökonomischen Strukturdisparitäten und reflektiert diese in sich selbst. Er ist die Basis der heutigen US-amerikanischen indirekten Wahl und somit der souveränen Extroversion. Damit ist nicht die zutiefst segregierte globale Entscheidungsfreiheit – womit die Frage nach der Freiheit beantwortet wäre – gemeint, sondern vielmehr die Assoziation mit einer der stilistischen Quellen der Erholung, welche in der Antike auch im persönlichen Areal des zentrapetalistischen Regierungssystems einen großen Stellenwert als Kunst- und Muselokation hatten. [...]

Man muß erkennen, daß es dem Dichter in höchster Vollendung gelungen ist, sich an die Dürrenmattschen Prinzipien des Dramas zu halten und diese auf die Poesie zu transferieren. Diese sind neben der Komödie auch das Prinzip der Mausefalle und das bedeutende Prinzip der Herausforderung der Kritiker, da die Aussage, die das Werk hat, noch nicht einmal angedeutet werden darf. Besonders gut ist es ihm gelungen, sein Anliegen – seine ‘Motivation’ –, das Werk zu erschaffen, kunstvoll zu verbergen sowie seine Meinung und Gesinnung überhaupt nicht zum Thema werden zu lassen.


Lorenz Merdian

Anm. d. Red.: Der Autor zeigte sich nach Fertigstellung dieses literaturscientären Textes unzufrieden mit ebendiesem, da er in seiner Argumentation viel zu logisch und konsequent vorgegangen sei, um seine Liebe zum Fach Deutsch auch nur ansatzweise deutlich machen zu können.

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