100% Curriculum – 1000‰ Success

Besonders beglückend für uns Schüler wirkte durch unsere ganze Schulzeit hindurch das Curriculum diverser Fächer. Daher an dieser Stelle noch einmal eine Zusammenfassung der Höchstleistungen der für dieses Geschenk zu lobenden Ministerialbeamten. Voilà:

Deutsch
Dieses Fach ist in seinem vollen Umfang unverzichtbar. Zwar ist es leider etwas mit unnützen Themen wie Rechtschreibung oder Grammatik durchsetzt – auch Ausdrucksformen werden streckenweise behandelt, das Schreiben von Bewerbungen geübt etc. –, glücklicherweise jedoch nur zu einem verschwindend geringen Anteil, denn die meiste Unterrichtszeit entfällt auf den vom Gros der Schüler favorisierten Bereich der fiktiven Literatur: ca. 80 % davon dürfen sie sich an Jugendliteratur, Kurzgeschichten, Gedichten, Romanen, Novellen, Dramen etc. erfreuen und sich interpretativ darüber auslassen. Jeder ist sich schließlich darüber im Klaren, daß humanistische Ideale heute wichtiger sind denn je und eine reduzierte Berücksichtigung dieser im Curriculum eines Gymnasiums indiskutabel ist; besonders im globalen Wettbewerb der Gesellschaften im 21. Jahrhundert wird sich eine solche Allgemeinbildung als unumgänglich erweisen. Zudem hat, wie bereits angemerkt, die Majorität der Schüler großen Spaß daran, das Groteske in Dürrenmatt’s ‘Besuch der alten Dame’ benennen zu dürfen oder ein Gedicht von Andreas Gryphius für zwei Tage auswendig zu lernen. Vor allem aber zeugt die Auswahl der Texte von kulturellem Weitblick: Die Proleten-Literatur der letzten 30 Jahre wird bewußt ausgelassen – von Ausnahmen wie kreativen Alternativgedichten der 80er Jahre abgesehen –, ebenso beschränkt sich das Spektrum auf Texte deutschsprachigen oder zumindest mitteleuropäischen Ursprungs. Dort konzentriert sich schließlich seit der hohen Kultur der Neandertaler die Avantgarde der Intellektuellen dieser Erde; das, was z.B. in China so geschrieben wurde, ist sowieso nur konfuzianische oder kommunistische Propaganda und für eine weltoffene Schulform ungeeignet. Den auf diese Weise einzigartig klaren Blick auf die Realitäten dieser Welt wird jeder Deutsch-Schüler sicher sein Leben lang zu schätzen wissen. Doch das Beste kommt erst noch: Da jene wenigen, die auch noch am perfektesten Unterricht etwas auszusetzen haben, sich sicher nicht in die entsprechenden Entscheidungsgremien begeben oder Deutschlehrer werden, ist ein Verfall der Standards in diesem Fach überhaupt nicht in Sicht, so daß einige heutige Abiturienten in ca. zehn Jahren dieselben zu sprachlichen Höchstleistungen anspornenden Themen lehren können werden, die sie schon zu ihrer eigenen Schulzeit wißbegierig verschlungen haben.

Geschichte
Ähnlich sympathisch wie in Deutsch sind auch in Geschichte die Schwerpunkte gesetzt, wodurch sich der Unterricht sowohl informativ als auch interessant gestaltet: Gerade das Lernen von Regierungsdaten oder die Kenntnis der genauen Hintergründe kleiner territorialer Konflikte geben dem Fach den Pfiff, den man ohne solche – auf den ersten Blick nur wenig relevanten – Aspekte doch arg vermissen würde. Gut, kleine Wermutstropfen gibt es schon – die französische Revolution wird lediglich dreimal durchgenommen statt monatlich, die Vornamen der Großmutter mütterlicherseits Barbarossas oder die kommunalpolitische Struktur Rußlands um 1880 wären sicher auch spannende Themen gewesen –, aber derlei Defizite halten sich in Grenzen. Sinnvoll ist ja z.B. das häufige Auslassen der Zeit nach 1948, da man darüber ja die Groß- und Eltern befragen kann; geographisch fernere Ereignisse wie den Vietnamkrieg bekommt man wiederum täglich in qualitativ hochwertigen und historisch hintergründigen Spielfilmen im Fernsehen gezeigt. Ganz zu schweigen davon, daß Vietnam ja sowieso außerhalb Europas liegt und daher automatisch nur Randnotizcharakter verdient: Auch Japan beispielsweise mag zwar die zweitgrößte Wirtschaftsnation der Erde sein, aber vor dem Zweiten Weltkrieg war dort ja eh’ nichts los. Gerade in der gegenwärtigen dortigen Wirtschaftskrise zeigt sich die Irrelevanz des Landes. Sicherlich würde sich kein Schüler für ostasiatische Kulturen interessieren; was sollte man also kostbare Zeit von unverzichtbaren Themen wie den Konflikten der Hanse abziehen. Die kleine Minderheit der Schülerschaft, die solche wichtigen – im Übrigen echte Bildung zeigenden – Einzelheiten zugunsten eines global-geschichtlichen Überblicks ausgelassen sehen möchte, will sich schlicht nicht als gedächtnisschwach outen. Solche Leute haben auf einem Gymnasium nichts zu suchen. Nur zu gut ist da die Planung anzusehen, die Geschichte themenbezogen im Querschnitt zu behandeln – ein erfolgversprechender Weg, Schüler mit oben genanntem Geschichtsverständnis endgültig als unfähig zu brandmarken.

Physik
Das pädagogische Konzept des Faches Physik ist geradezu genial: Ganz den neuesten Erkenntnissen auf dem Gebiet der Gedächtnisforschung folgend werden Themen wie Magnetismus oder Elektrizität bis zu dreimal komplett von vorne besprochen, möglichst von drei verschiedenen Lehrern. Nur Unverbesserliche werden auch nach dem dritten Mal die Grundlagen nicht kennen, wohingegen bei der ausführlichen Behandlung von Teilaspekten oder von anderen Gebieten der Physik die meisten Schüler unmotiviert abschalten würden. Die Tatsache, daß man die gleichen Versuche wiederholt protokolliert, hilft nicht unerheblich bei der Speicherung des Wissens; und wer schon alles weiß, dem wird der Sinn des Führens eines Heftes erstmals in seiner Laufbahn so richtig deutlich, da er sich entspannt zurücklehnen und jenes von vor drei Jahren zu Rate ziehen kann – ganz wie in Geschichte.

Kunst, Musik, Sport
Welch Segen, daß diese wichtigsten aller Fächer noch nicht der Rationalisierung zum Opfer gefallen sind. Geradezu himmlisch ist auch die Tatsache, daß sie alle verpflichtend sind – Sport sogar bis ein paar Monate vor dem Abitur –, sonst würden auf Anregung ein paar fauler, unkreativer Schüler am Ende die Wochenstundenzahlen anderer Fächer auf Kosten dieser Fundamente der Kultur erhöht werden. Gut ist auch, daß sie durchweg benotet werden, schließlich will man schwarz auf weiß bescheinigt haben, was man so geleistet hat. Wozu haben unsere Lehrer sonst auf der Uni gelernt, was objektiv schön ist bzw. welche sportlichen Leistungen man in welchem Alter einfach zu erbringen hat. Und in Musik wird an Leistungsunterschieden lediglich deutlich, wer seine Ohren mit sogenannter moderner Musik zerstört hat und daher eine Quarte nicht von einer Quinte unterscheiden kann. Tja, hier zeigt sich eben der wahre Gymnasiast – oder auch nicht.


Urs Enke

Datenschutzerklärung