Abitur-Klausur LK Biologie 1999

Aufgabenstellung: Erläutern Sie die Existenz verschiedenartiger Biologie-Leistungskurslehrer des Abi-Jahrganges 1999 unter evolutionsbiologischen Gesichtspunkten.

Trotz der heutzutage doch stark differenzierten Lebensweise der Lebewesen Homo magistra biologica Krafft und Homo magister biologicus Radler vertritt die Wissenschaft immer noch die These, daß beide Lebewesen einen gemeinsamen Urahn hatten. Durch aktuelle lebensnahe Studien während der letzten drei Jahre (5 Tage pro Woche bis zu 2 Stunden täglich in unmittelbarer Nähe zu den Forschungsobjekten) konnten die mit dem Projekt vertrauten Forscher (getarnt als unwissende Schüler) unter Einsatz ihres Lebens total neuartige Erkenntnisse über die bisher relativ unbekannten ‘possierlichen’ Biologielehrer sammeln. Die einzigartigen Forschungsergebnisse eröffnen uns eine völlig neue Perspektive und ermöglichen es endlich, die aufgestellte These zu verifizieren:

Es scheint unglaublich, entspricht aber der Realität – die Trennung der Entwicklungslinien der beiden Homo magister biologicus (im Hochdeutschen auch als Biolehrer bekannt) vollzog sich nicht schon im Pleistozän, sondern erst in der jüngsten Vergangenheit. Trotz mannigfaltiger Varietäten haben Untersuchungen der DNA nur geringe Unterschiede zu Tage gefördert; im sozialen Gefüge des gemeinsamen Jagdreviers respektieren sie beide den Anführer des regionalen Homo-Gemeiner-Waldbröler-Magister Rudels und müssen sich dem Noß unterordnen. Auf harte Auseinandersetzungen legen es die Vertreter der unterschiedlichen Lebensstile nicht an; gelegentlich trifft man sich einmal, aber die Anpassung an verschiedene ökologische Nischen hat auch zu ethologisch differenten Lehrmethoden geführt.

Man geht davon aus, daß die heterogene Entwicklung der Krafft und des Radlers erst im Biotop der Höhlen des Gymnasium-Waldes begonnen hat. Das Schicksal nahm seinen Lauf... Geographisch isoliert durch zentimeterdicke Betonwände mußten die beiden Biologen sich getrennt voneinander in der für sie feindlichen unbekannten Atmosphäre der Räume 24 und 23 weiterentwickeln. Der Genfluß zwischen den Lebewesen wurde unterbrochen: Im Prozeß der Evolution ein kleiner Schritt für das Gesamtkunstwerk, doch gleichzeitig ein großer Schritt für alle Schüler des Hollenbergwaldes. Die Ur-Krafft und der Ur-Radler sollten zu den Gründern einer neuen Population werden... Die Zeit schritt voran, neue ökologische Nischen wurden besetzt, und man war mit sich und der Welt zufrieden. Doch durch die jahrelange Isolation unterschieden sich die beiden Lehrer immer mehr.

Homo magistra biologica Krafft fand sich in Raum 24 umringt von den neuesten technischen Geräten. Mit der Zeit lernte sie mit den unterschiedlichsten Videorecordern zurechtzukommen mehr oder weniger gut die Selektion war Richtung Zukunft gerichtet. Darwin hätte uns an dieser Stelle etwas vom ‘Kampf ums Dasein’ erzählt, und davon, daß derjenige überlebt, der besser mit Videorecordern umgehen kann; wir jedoch in unserer unermeßlichen Weisheit wissen, daß dieser Prozeß wohl eher etwas mit Mutationen zu tun hatte. Die Videorecorder schienen sich gut mit dem Homo magistra biologica Krafft zu verstehen, eine symbiotische Beziehung zueinander entstand – perfekte Harmonie, die selbst die Forscher zu schätzen lernten und den Homo in seiner Symbiose zu unterstützen wußten: „Gucken wir doch noch einmal ’nen Film, Frau Krafft!“. Die Beziehung zwischen Forschern und Evolutionsobjekt K. gedieh prächtig und war von gegenseitigem Verständnis geprägt, das Frühstück wurde zum kulturübergreifenden Mittelpunkt des Lebens der Forscher und des gemütlichen Untersuchungs-Kraffts. Biologica Krafft pflegt einen innigen Kontakt zu ihrem Trinkgefäß: Diese einmalige Verbindung zur Kaffeetasse wurde oft als Energiemeßapparat für den Außenstehenden interpretiert (Kraf(f)tanzeige – Tasse voll: ganze Energie kann für neue Projekte bereitgestellt werden). Uns ist klar geworden: Lamarcks Theorie war doch gar nicht so falsch: Biologica Krafft schaffte es durch den unbedingten inneren Willen, eine Kaffeetasse nach und nach in ihrer Hand materialisieren zu lassen. Diese Fähigkeit ist bei ihr in Perfektion ausgebildet: Oder kann jemand die organische Tasse von herkömmlichen Porzellantassen unterscheiden?

Ganz anders verlief die Entwicklung des relativ fotoscheuen Biologicus Radler. In seiner Einsamkeit mit dem Ex-Schimmelpilz in Raum 23 vertiefte er sich in seine Bücher und fand eine neue freie ökologische Nische der Wissenschaften – jede Entdeckung erschien ihm so wichtig, daß er sie den ihm andächtig lauschenden Forschern offenbaren mußte. Diesem Selektionsdruck waren nicht alle von ihnen gewachsen; es kam zu Verlusten, aber einige Forscher nahmen ihren Auftrag ernst und schafften es, die dreijährigen Studien zu überdauern.

Zwar überschneiden sich die ökologischen Nischen der beiden Biologen heute wieder (so z.B. auf dem Weg zum Kaffeezimmer), doch hat man sich während der langen Isolationszeit vor allem ethologisch so unterschiedlich voneinander entwickelt, daß nach den dreijährigen Forschungen kein Zweifel mehr darin besteht, daß Frau Krafft und Herr Radler zwei völlig verschiedene Arten von Biologielehrern sind. Balzverhalten wird zwischen beiden wohl nie beobachtet werden. Eine erneute Rekombination der Genotypen durch Paarung (jeder Schüler, der im Biologieunterricht aufgepaßt hat, sollte wissen, daß sich Arten eigentlich nicht kreuzen lassen) ist ausgeschlossen. Ein Kradler als Biologielehrer wird zukünftigen Generationen wohl erspart bleiben.


Michael Herchenbach

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