Die Überlegenheit der Oberstufe
– exemplarisch gezeigt an einem eigens dafür kreierten Gedicht


Licht

Es scheint das Licht,
auch wenn es
nicht immer
das Auffälligste ist.


Gemeint:
Nicht verzweifeln!

Deutscher Fahrschulen-Verband:
1. "Ich hab' die rote Ampel nicht gesehen" ist keine Rechtfertigung.
2. Abblendlicht genügt oft.

Geistig verwirrt:
Wirklich wichtig sind doch nur die scheinbaren Kleinigkeiten, die aber das Rückgrat des Universums darstellen.

Nihilistisch-logisch:
Daß es im Universum diverse Lichtquellen gibt, steht außer Zweifel. Daß dieser Zustand beispielsweise durch das sich-begeben in einen komplett dunklen Raum nicht geändert wird, bedarf keiner Erwähnung.

Literaturkritik in Reinform:
Licht: Es scheint das Licht, auch wenn es nicht immer das Auffälligste ist.

Grundschule:
Das reimt sich ja gar nicht!

Unterstufe:
Das Gedicht handelt von Licht und hat vier Zeilen. Es sagt, daß das Licht auch dann scheint, wenn es einem nicht so auffällt.

Mittelstufe:
Das Gedicht "Licht" eines unbekannten Autors besteht aus einer Strophe mit vier Zeilen. Es folgt dem Reimschema abca und hat keinen einheitlichen Sprechrhythmus. Sein Ziel ist es, dem Leser zu verdeutlichen, daß es auch in schweren Zeiten immer Grund zur Hoffnung gibt.

Oberstufe:
Das lyrische Konstrukt mit Titel "Licht", über dessen Herkunft es keine Informationen gibt, hat offensichtlich ein moralisches Anliegen: Dem Rezipienten soll verdeutlicht werden, daß emotional als positiv empfundene Wahrheiten nicht immer offenbar sind, der Mensch sich aber auch in Zeiten, da seine Aufmerksamkeit z.B. von Problemen gefesselt wird, auf die Existenz ersterer verlassen kann.
Dies wird verdeutlicht durch den graphischen Aufbau des Werkes: Beim Lesen der vier Zeilen ist zunächst die hervorstechende Länge der letzten Zeile auffällig. Bei genauerer Betrachtung aber zeigt sich die mengenmäßige Übermacht der ersten drei Zeilen – exemplarisch für das unauffällige, doch unauslöschbare Gute, für die Keime der Hoffnung in jeder auch noch so verzweifelten Situation des Lebens.


Urs Enke

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