Prüfungsstreß
Psychische Qualen eines Schülers

1. Die Diesmal-beginne-ich-rechtzeitig-Phase
Am Anfang der Planung sind die Schüler ziemlich optimistisch. Immerhin besteht die Aussicht, daß man wenigstens dieses Mal auf sinnvolle und systematische Weise arbeitet. Obwohl er um keinen Preis der Welt bereit ist, gleich an die Arbeit zu gehen, rechnet der Schüler in dieser Phase fest damit, daß der Arbeitswahn irgendwann spontan über ihn kommt. Bald.

2. Die Gleich-werde-ich-was-tun-Phase
Der Zeitpunkt für einen wirklich frühzeitigen Beginn ist nun verstrichen. Die Illusion, ein perfektes Timing hinzukriegen, schwindet. Parallel dazu wird der Druck anzufangen intensiver. Aber die Deadline ist noch nicht in Sicht. Gleich geht’s los.

3. Die Was-soll-ich-nur-tun-wenn-ich-jetzt-nichts-tue-Phase
Während die Zeit ungenutzt dahin zieht, hat sich die Frage eines rechtzeitigen Beginns endgültig erledigt. Diese Hoffnung ist perdu – dafür kommen Visionen.
Der Schüler malt sich aus, wie es wäre, wenn die Prüfung über Nacht abgeblasen oder – noch besser – verschoben würde, ohne daß irgendwer gemerkt hätte, daß er nicht in die Hufe gekommen ist. Er beruhigt sich mit der Vorstellung, in mörderischen Nachtschichten alles bisher Versäumte nachzuholen demnächst! Er entwickelt eine komplizierte Ausreden-Logistik. Trotzdem: Noch könnte er die Vorbereitung termingerecht abschließen.

4. Die Ich-tue-jetzt-was-anderes-Phase
Fast alle Schüler beginnen in diesem Stadium mit hektischen Aktivitäten, die alles mögliche betreffen, nur nicht die Vorbereitung. Sie setzen alle ihre angesammelten Kräfte daran, den Schreibtisch endlich vollständig zu säubern. Sie nehmen sich längst abgelegter Arbeiten an. Sie füllen ihre Zeit mit Dingen, die ihnen wirklich unangenehm sind – bloß um die Prüfungsvorbereitungen zu verdrängen.

5. Die Ich-hab’-auch-ein-Recht-auf-Freizeit-Phase
Der Emotionshaushalt des Schülers ist nun äußerst fragil. Einerseits ist es ihm gelungen, sich selbst zu belügen. Andererseits wachsen die Schwierigkeiten bezüglich der Zusammenfassung mit jeder Stunde. In dieser Phase neigt der Schüler zu tollkühnem Eskapismus: Angesichts all der Anforderungen, die an ihn gestellt werden, manifestiert sich nun das Gefühl, mindestens einmal ein Recht auf Freizeit und Vergnügen zu haben. Die Prüfung, redet er sich ein, ist bloß ein Klacks, wenn er sich vorher erst mal was gönnen kann. Jetzt fahren die Schüler erst mal zu McDonald’s, gehen ins Kino oder betrinken sich vorsätzlich.

6. Die Es-ist-immer-noch-etwas-Zeit-Phase
Obwohl er sich nach diesen Vergnügungen schuldig fühlt, und obwohl ihm der Boden jetzt jeden Moment unter den Füßen wegzubrechen droht, setzt der Schüler immer noch auf Zeit. Er ist allerdings sicher, daß er demnächst in einen geradezu tierischen Arbeitsrausch verfallen wird. Jetzt konzentriert er sich darauf, Zwischenergebnisse vorzutäuschen. „Jaja, ich bin mittendrin…“ ist in dieser Phase sein Standardsatz. Nebenfronten werden eröffnet. „Ich bin gerade auf einen interessanten Aspekt gestoßen“, versucht er seinen Noch-Mitschülern klarzumachen.

7. Die Mit-mir-stimmt-etwas-nicht-Phase
Gleichzeitig plumpst er jetzt in tiefe Depressionen. Die Prüfungstermine sind zum Greifen nahe aber unser Schüler hat so gut wie nichts in der Hand. Selbstvorwürfe und Selbstzweifel holen ihn ein. Er ist überzeugt, daß ihm einfach etwas fehlt, was alle anderen aufweisen können: Disziplin, Mut, Grips!

8. Der Showdown – die panische Phase
An diesem Punkt muß der Schüler seine Entscheidung fällen: Das sinkende Schiff verlassen und vom Abi zurücktreten oder bis zum Ende durchhalten. Der Druck ist so groß, daß er es nicht mehr aushält, auch nur eine einzige weitere Sekunde auf Kosten der Vorbereitung zu verlieren. Sämtliche Fremdeinflüsse werden ausgeschaltet. Der Schüler wäscht sich nicht mehr, verweigert die Nahrungsaufnahme, meidet die Wirtschaften und unterdrückt den Pinkelzwang. Ohne Wenn und Aber wirft er sich jetzt in die Schlacht. Energiehormone werden in Extradosierungen ausgeschüttet. Die Arbeit geht voran. Die Gewißheit, die Prüfung doch noch durchstehen zu können, ist da. Die Arbeit ist schwierig und schmerzhaft – dennoch gerät der Schüler nun doch in die euphorische Phase. Es ist genau dieser Rausch, den er eigentlich sucht. Das Gefühl, es gerade noch einmal zu schaffen. Dazu das volle Bewußtsein, im Besitz von Riesenkräften zu sein: Seht, das Ergebnis ist gar nicht so schlecht! Erst recht, wenn man bedenkt, daß keine Zeit mehr war. Ein anderer hätte das in der vorgegebenen Zeit auch nicht besser hingekriegt.  


Geändert übernommen aus der Erstsemester-Info der Fachschaft Mathe/Physik/Informatik der RWTH Aachen, WS 97/98,
ursprünglich erschienen in der Zeitschrift 'Blitz' des Akad. Masch.-Ing.-Vereins an der ETH Zürich, Ausgabe 3/1993

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