Sekundarstufe III
– was uns vorenthalten worden ist

Milliarden werden in AB-Maßnahmen gesteckt, komplizierte Vorruhestandsregelungen ausgehandelt, Einstiegslöhne subventioniert – alle Welt bedauert und bemängelt die Jugendarbeitslosigkeit. Dabei sind gerade in Deutschland die Voraussetzungen für Vollbeschäftigung gegeben wie sonst nirgendwo: Es fehlt lediglich an etwas Schulzeit, um uns junge Spunde noch ein wenig davon abzuhalten, anderen die Arbeitsplätze wegzunehmen – die Sekundarstufe III !

Ganz von den positiven arbeitsmarktpolitischen Folgen abgesehen sollten wir uns wirklich einmal vergegenwärtigen, was wir infolge der Inexistenz der ‘Sek. III’ verpaßt haben, und zwar ganz simpel durch Betrachtung der sich in unserer Schulzeit angedeutet habenden Trends:

Stufenstruktur
Sek. I: Undisziplinierter, aber eingespielter Klassenverband.
Sek. II: Wegen Alter und Differenzierung diszipliniertere, relativ homogene Jahrgangsstufe. Teilweise sogar Engagement in Leistungskursen.
Sek. III: Völlig freie Fächerwahl; drei Kursarten: ‘AG’, ‘LK in Anführungsstrichen’ und ‘HLK’ (Hochleistungskurs). Einzige Bedingung: Wer mittwochs Physik hat, montags aber nicht vor 2 Uhr morgens Musik belegt, muß mindestens drei mittelgroße Pausen ins ‘AbiPlus’ einbringen.

Privilegien der Schülerschaft
Sek. I: Wird in den Pausen nach draußen gescheucht.
Sek. II: Wird in den Pausen als schlechtes Beispiel bezeichnet.
Sek. III: Primäre Aufenthaltsräume: Internet-Raum und Lehrerzimmer.

Sport
Sek. I: Lehrplan-Mischmasch; Schwerpunkte je nach Lehrer; mitten im Stundenplan.
Sek. II: Je nach Lehrer 5 bis 90 % der Zeit Aufwärmen; ansonsten meist Spiel & Spaß; zweimal die Woche nachmittags.
Sek. III: Jeden Sonntag um 21h45 vierstündiges Aufwärmtraining; gespielt wird während des direkt folgenden REM-Schlafes.

Walter Schichlein
Sek. I: Gefürchteter Disziplinator. Lernerfolg: Gefordert.
Sek. II: Wegen Offenheit geschätzt, wegen harter (Vor-?) Urteile kritisiert. Lernerfolg: „Ihre Sache.“
Sek. III: Unterricht wird von Schülern geschmissen. Lernerfolg: „Egal.“

Geschichte
Sek. I: Steinzeit bis 1950 – Danach: Fehlanzeige.
Sek. II: Mittelalter bis 1950 – Danach: Fehlanzeige.
Sek. III: 1950 – Danach: Fehlanzeige.

Politik
Sek. I: Name des Faches: Politik. Themen: Sozialkundlich.
Sek. II: Name des Faches: SoWi. Themen: Politisch.
Sek. III: Name des Faches: Sozialkunde. Themen: Sozialwissenschaftlich.

Religion
Sek. I: Erst unkritisches Bibel-Lesen, später Diskussion sozialer Probleme.
Sek. II: Kritisches Zerpflücken der Bibel, Diskussionen über theologische Texte.
Sek. III: Bibel wird als inexistent angesehen, Diskussionen über den Sinn des Faches.

Mathematik- Lehrbücher
Sek. I: Inhaltlich angemessen, formal Grundschulniveau („Peter und Heike messen den Klassenraum aus“).
Sek. II: Kaum mehr als Nachschlagewerke; Schüler, die aus den Büchern lernen, sind unbekannt.
Sek. III: Das ultimative Sek.-III-Mathebuch besteht aus a) einer Formelsammlung und b) einem 1000seitigen Prosatext zur puren Verwirrung.

Englisch
Sek. I: Ermöglicht es dem Schüler, sich Ende Klasse 10 in Englisch zu unterhalten.
Sek. II: Übung durch Anwendung.
Sek. III: Muttersprachliche Diskussion über den Sinn des Fremdsprachenlernens. Trotzdem größerer Lernerfolg als in all den Jahren zuvor durch kollektive TV-Nachmittage mit den ‘Simpsons’ im O-Ton.

Erdkunde
Sek. I: Neugieriges Entdecken der Welt (Wald, Wüste, Wattenmeer).
Sek. II: Unmotivierte Konfrontation mit auf fiktiven Prämissen basierenden geo-sozialtheoretischen Modellen (Thünen, Trassen, Trabantenstädte).
Sek. III: Allergische Reaktionen bei der praktischen Umsetzung fiktiver Modelle. Einziges Erfolgsprojekt: Feldversuch zur Chaostheorie.

Kunst
Sek. I: Versuch der Abbildung der Realität (Bäume, Schuhe).
Sek. II: Versuch der Abbildung hintergründiger Aspekte der Realität (Psyche, Akustik).
Sek. III: Versuch, die Abbildung jeglicher Realität zu vermeiden (Kunst).

Deutsch
Sek. I: Gespenstergeschichten fesseln in der Unterstufe, Schiller treibt zum Selbstmord in der Mittelstufe.
Sek. II: Alle Lehrer in Erklärungsnotstand zwischen den Fronten „Solang’ man sie begründen kann, ist jede Interpretation o.k.“ und „Tja, es gibt gewisse Mainstream-Interpretationen innerhalb der Bildungstradition...“.
Sek. III: Spätestens beim Thema ‘möbiussche Spannungskurven in der vierten Dimension’ wird das Bildungsministerium gestürmt. Folge: Umbenennung des Faches in ‘High German’. Vorläufiges Curriculum: Verzweifelte Ausarbeitung eines solchen.


Urs Enke

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