Kritische Reflexion über den Wert und Unwert von Zelluloseprodukten in Bildungsanstalten

Je näher das Ende der Schulzeit rückt, desto öfter blickt man auf diese dreizehn Jahre zurück und fragt sich: Was haben sie bis jetzt gebracht? Und die einzige Größe, nach der man diese Zeit wirklich beurteilen kann, ist nicht etwa die allesbedeutende und doch nichtssagende Zahl auf einem Blatt Papier namens Zeugnis, sondern das Papier selbst. Diese DIN A4 genormten Informationsträger sind das eigentliche Symbol unserer Schullaufbahn. Arbeitsblätter in Heften, in Ordnern und Klarsichthüllen. Handbeschrieben, vollgekritzelt, kopiert oder von Matrize abgezogen. Geliebt in Form von kleinen Briefchen, gehaßt in Form von Klausuren, vergessen in Form von Hausaufgaben. Ein ganzer Meter im Regal (nur aus der Oberstufe) voll von Referaten, Erörterungen, Interpretationen, Aufsätzen und Ge-dichten. Voll von Vektorrechnungen, unechten Brüchen, Limesfunktionen und Kurvendiskussionen. Grund ge-nug, diesen 21x27,9 Quadratzentimetern etwas Aufmerksamkeit zu widmen und der Blättersammlung ein weiteres Exemplar hinzuzufügen.

Natürlich macht der Einsatz von Arbeitsblättern Sinn: Wer von uns würde schon gerne alles mit Griffeln auf Schiefertafeln schreiben wollen, um es dann wieder auswischen zu müssen? Auch die moderne Alternative, die elektronische Datenverarbeitung auf Disketten, ist nicht nur praktisch: Denn wie schreibt man in der Fünf-Minuten-Pause in der Raucherhalle eine Diskette mit Englischhausaufgaben ab? Und wohin malt man die Bilder, die in langweiligen Stunden immer auf dem Heftrand entstehen? Das Arbeitsblatt bietet also zweifellos eine Menge von Vorteilen, zumal man auch aktuelle Texte bearbeiten kann, die noch in keinem Schulbuch stehen (auch wenn diese Chance von einigen Lehrern vorsätzlich igno-riert wird; ich erinnere mich zum Beispiel an Tabellen im Fach Erdkunde aus dem Jahr 1970, welche die aktuellen Probleme der Raumordnung darstellen sollten).

Gleichzeitig birgt es aber auch ein erhebliches Frustpotential. Allein schon durch die Art der Materialien. Beispiel: „Die strukturelle Differenzierung […] wird gesteuert durch individuelle Wohnvorstellungen und die Variablen ‘Wohnungsmiete’ und ‘Immobilienpreis’, die je nach finanzieller Potenz des Individuums über den Realisierungsgrad des Wollens entscheiden.“ – Solche Texte fördern den Spaß am Lernen und sind ungeheuer motivierend, oder? (Bei dem Beispiel handelte es sich übrigens nicht um einen Text aus der Philosophie sondern aus Erdkunde.) Ein weiterer Grund, der zu Schüler- und damit auch zu Lehrerfrust führt, ist das fast schon dadaistische Layout mancher Zettel: Der Schluß ist auf der Seite ganz oben und um neunzig Grad gedreht, in der rechten Spalte fehlt in jeder Zeile das letzte Wort, Diagramme sind nicht zu erkennen. Die Blätter zu lochen und einzuheften ist nicht möglich, da man dadurch wichtige Passagen aus dem Text stanzen würde, und das Ganze ist so sehr verkleinert, daß man sich ständig fragt, was Text ist und was dem verschmutzten Vorlagenglas des Kopierers zuzuordnen. An dieser Stelle sei allerdings Herr Hein ausdrücklich gelobt, bei dem man, seitdem er einen Computer samt Laserdrucker sein Eigen nennt, vorbildliche Arbeitsmaterialien persönlich ausgehändigt bekommt.

Durch diese zweifelsfrei arbeitsaufwendigere Form der Unterrichtsvorbereitung wird nämlich gleichzeitig ein weiteres Übel ausgeschlossen. Durch die zeitaufwendigere Auswahl und Herstellung der Kopiervorlagen wird deren Menge erheblich reduziert. Entgleisungen wie die Ausgabe von über sechzig (nur in Bruchteilen bearbeiteten) Seiten in nur einer Religionsstunde sind bei angemessener Unterrichtsplanung kaum vorstellbar und wären wahrscheinlich nicht vorgekommen, wenn sich die Lehrperson vorher mit jedem Blatt etwas intensiver befaßt hätte.

Das Einzige, was wir nach dreizehn Jahren Schule neben solchen Kleinigkeiten wie Bildung, Kritikfähigkeit und Kenntnissen über partielle Integration wirklich besitzen, hat einige schwerwiegende Mängel, die allerdings ohne allzu großen Aufwand zu beheben wären.

Also! An alle Lehrer: Gebt euch doch ein wenig mehr Mühe mit den Arbeitsblättern und schreibt euch folgenden kleinen Merksatz in euren roten Philologenkalender: „Kopiert, was wichtig aber richtig!“

Und an alle Schüler: Es gibt auch für alte, schlechte und unleserliche Arbeitsblätter noch einen Verwendungszweck (siehe Zeichnung).


Sebastian Vorländer

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